In der Schweiz gilt im Privatrecht der Grundsatz der Kündigungsfreiheit. Das heisst für das Aussprechen einer Kündigung ist kein Kündigungsgrund notwendig (Art. 335 Abs. 1 OR). Eine Kündigung kann aber missbräuchlich sein, wenn sie aus bestimmten, im OR genannten Gründen ausgesprochen wird (Art. 336 OR). Die Aufzählung in Art. 336 OR ist aber nicht abschliessend und die Rechtsprechung hat weitere Missbräuchlichkeitstatbestände hervorgebracht.
Das Bundesgericht hat sich wiederholt mit der Frage befasst, unter welchen Umständen die Kündigung des Arbeitsverhältnisses von Arbeitnehmenden kurz vor der Pensionierung mit langer Dienstzeit (sog. «Alterskündigung») als missbräuchlich zu qualifizieren ist. In den letzten Jahren gab es eine Vielzahl an Urteilen betreffend Alterskündigungen, die Rechtsprechung kann als uneinheitlich bezeichnet werden.
Das Bundesgericht hat im Aufsehen erregenden Fall BGE 132 III 115 im Jahre 2005 den neuen Missbrauchstatbestand des «krassen Missverhältnisses der Interessen» eingeführt. Im Entscheid ging es um einen Heizungsmonteur, der nach 44 klaglosen Dienstjahren im Alter von 63 Jahren, 14 Monate vor der ordentlichen Pensionierung, entlassen wurde. Das Bundesgericht hielt fest, dass bei älteren Mitarbeitenden, welche kurz vor der Pensionierung stehen, eine erhöhte Fürsorgepflicht gelte und ihnen ermöglicht werden solle, die ordentliche Pensionierung ohne finanzielle Einbussen zu erreichen, sofern nicht triftige Gründe für eine Kündigung sprechen (E. 5.3). Das Bundesgericht sprach im Falle des Heizungsmonteurs eine Entschädigung von 6 Monatslöhnen zu. In verschiedenen Folgeentscheiden bestätigte das Bundesgericht seine Rechtsprechung.
Insbesondere in BGer 4A_384/2014 vom 12. November 2014 bestätigte das Bundesgericht die Rechtsprechung und zog den Schluss, dass bei älteren Arbeitnehmenden der Art und Weise der Kündigung besondere Beachtung zu schenken sei. Der Arbeitnehmer habe namentlich Anspruch darauf, rechtzeitig über die beabsichtigte Kündigung informiert und angehört zu werden, und der Arbeitgeber sei verpflichtet, nach Lösungen zu suchen, welche eine Aufrechterhaltung des Arbeitsverhältnisses ermöglichen. Immerhin hielt das Bundesgericht fest, dass ein absoluter Kündigungsschutz für diese Kategorie von Arbeitnehmenden nicht bestehe, denn ein solcher würde das Prinzip der Kündigungsfreiheit grundsätzlich in Frage stellen (E. 4.2.2.). Der Entscheid wurde in der Lehre stark kritisiert.
Im BGer 4A_44/2021 vom 2. Juni 2021 Urteil nahm das Bundesgericht die Kritik der Lehre an seiner Rechtsprechung zur Alterskündigung auf und räumt ein, dass die in früheren Urteilen (insbesondere BGE 4A_384/2014 vom 12.11.2014) pauschal geforderte Rücksichtnahme gegenüber allen älteren Arbeitnehmenden zu apodiktisch ausgefallen sei. Es relativierte und präzisierte seine Rechtsprechung und hielt fest, das Obligationenrecht kenne keine Pflicht, die Gegenpartei vor Aussprechen einer Kündigung anzuhören oder sie zunächst zu verwarnen. Ebenso wenig besteht im Privatrecht eine generelle Pflicht, eine erwogene Kündigung zunächst einer Verhältnismässigkeitsprüfung in dem Sinne zu unterziehen, dass vor einer Kündigung immer zuerst mildere Massnahmen zu ergreifen wären (E.4.3.2). Das Bundesgericht führt weiter aus, dass der Arbeitgeber zwar bei älteren Arbeitnehmern der Art und Weise der Kündigung besondere Beachtung zu schenken hat. Aber: Der Umfang der arbeitgeberischen Fürsorgepflicht bestimme sich auch bei älteren Arbeitnehmenden «einzelfallbezogen aufgrund einer Gesamtwürdigung der jeweiligen Umstände» (E.4.3.2).
Das Bundesgericht bestätigte seine Rechtsprechung in der Folge mehrfach. Insbesondere im BGer 4A_617/2023 vom 8. Oktober 2024 fasst das Bundesgericht die aktuelle Rechtsprechung und Literatur zur Alterskündigung gut zusammen und bestätigt die neuesten Entwicklungen:
- Das Schweizer Arbeitsrecht kennt grundsätzlich die Kündigungsfreiheit (Art. 335 OR).
- Eine Kündigung ist nicht allein deshalb missbräuchlich, weil sie einen älteren Arbeitnehmenden mit langer Betriebszugehörigkeit betrifft.
- Der missbräuchliche Charakter der Kündigung kann nur im Einzelfall festgestellt werden.
- Es besteht keine allgemeine Pflicht zur Anhörung oder Verwarnung vor der Kündigung.
- Es besteht keine allgemeine Pflicht, eine Kündigung einer Verhältnismässigkeitsprüfung zu unterziehen.
- Eine Fallbezogene Rücksichtnahme kann aber erforderlich sein.
Somit kann eine Kündigung von Arbeitnehmenden kurz vor der Pensionierung auch nach der jüngeren Rechtsprechung aufgrund der Art und Weise, wie sie ausgesprochen wird, als missbräuchlich gewertet werden. Dies insbesondere dann, wenn sie im Einzelfall als rücksichtslos erscheint oder alternative Massnahmen nicht einmal in Betracht gezogen wurden.